Berlin West
Der aufhaltsame Absturz Westberlins
I.
Es soll der Westwind gewesen sein. So lautet zumeist die Begründung
dafür, daß in fast allen Metropolen Europas die alles in allem schöneren
Viertel der Stadt im Westen liegen. Im Osten waren - jedenfalls in der Zeit,
als diese Städte im Übergang vom 19. zum 20. Jahrhundert gigantisch
wuchsen, - die Fabriken mit ihrem Rauch und Ruß und die sie
umgebenden immer enger und ungesunder werdenden Wohnquartiere
der Arbeiter und des unaufhörlichen Zuzugs aus Osteuropa. Wer seinen
eigenen sozialen Aufstieg unterstreichen wollte, wer es sich leisten
konnte, der wohnte im Westen, in den Villengegenden mit den großen
Parks und Gartengrundstücken.
Das war in Berlin nicht anders. Das explodierende Berlin der
Gründerjahre hatte zwar mehrere Zentren und seit dem 18. Jahrhundert
seinen Schwerpunkt in der Gegend um den Gendarmenmarkt und die
"Linden". Aber spätestens seit dem Zusammenschluss zu Großberlin
1929 war das moderne und mondäne Berlin in Charlottenburg, am
Lietzensee, im Grunewald. Hier trafen sich die politischen Köpfe der
Stadt, die nobelsten Teile des jüdischen Bürgertums, die Intellektuellen
und Künstler. Nicht nur, weil die Luft so gut, die Parks so hinreißend und
die Seegrundstücke so geeignet waren für gesellschaftliche Treffen. Sie
lebten hier, weil sich die kulturellen Institutionen auf dichtem Raum
drängten, in denen man sich eben traf: In den Theatern, im Literarischen
Cafe, nicht zu vergessen in den Tempeln der Moderne: den neu
entstehenden Filmpalästen und im Haus des Rundfunks. Zwar pulsierte
auch an anderen Ecken der Stadt das Leben, so am Potsdamer- und
Leipziger Platz. Aber die besten Adressen, die Avantgarde-Treffpunkte
und Clubs lagen im Westen. Das ist lange her. In Abstufungen ist es
vergleichbar mit den Entwicklungen in Hamburg, Frankfurt, München,
Paris, London oder Madrid.
Aber Westberlin hatte eine zweite, ureigene Westgeschichte. Als am Ende
von Faschismus und Krieg nicht nur das jüdische Bürgertum, sondern
bürgerliche Werte und bürgerliches Selbstbewusstsein insgesamt
genauso vernichtet waren wie die Städte, Straßenzeilen, Boulevards,
Parks und Villen, da begann in West-Berlin eine zweite Phase trotziger
Selbstbehauptung. Die umzingelte und dann eingemauerte Stadt, wurde
nicht nur von den drei Westalliierten demonstrativ hochgehalten als
Schaufenster des Westens, sie hielt sich auch selbst. Trotz des
unwiederbringlichen Verlustes von großbürgerlicher Weltläufigkeit und
mäzenatischer Noblesse fand sie ein inneres Gespür von dem, was zu
verteidigen war: Sie wollte besonders sein, und sie wurde es. In den
frühen 60igern waren – jedenfalls auf Zeit - fast alle bedeutenden
Schriftsteller deutscher Sprache in Berlin: Uwe Johnson, Hans-Magnus
Enzensberger, Ingeborg Bachmann, Christoph Meckel, Günter Grass. Im
Schillertheater fanden die Uraufführungen von Samuel Beckett, Peter
Weiß, Vaclav Havel statt. Die Freie Universität Berlin war eine attraktive
Adresse für aufmüpfige, zunehmend rebellische Geister. Mit der
beginnenden Studentenbewegung traf man sich in der "Gegen-
Öffentlichkeit" des Republikanischen Clubs, den einmal Peter Brückner,
Ulrich K. Preuß, Otto Schily und damals noch Horst Mahler gegründet
hatten. Clubs, Kabaretts, Restaurants, wie die Paris-Bar und der
Zwiebelfisch, drängten sich ebenso im Zentrum Charlottenburgs, wie
allein sechs verschiedene politische Buchhandlungen. Der Verlag Klaus
Wagenbach mit seinen roten Bänden behauptete sich, wie verschiedene
neugegründete Verlagsprojekte und die Zentren für die ganz andere
Musik- und Kabarettkultur: das Reichskabarett (später Grips-Theater) und
natürlich der legendäre Steve-Club, der für alle Liedermacher die ersten
kleinen Gagen garantierte. Zum Theatertreffen der Berliner Festspiele
eingeladen zu sein, war ein absoluter Ritterschlag für jede
deutschsprachige Bühne, nicht zu reden von den Jazztagen, die sogar in
der Philharmonie stattfanden und natürlich der Berlinale, die im Zoopalast
internationales Flair verbreitete.
Es war dieses West-Berlin, nach dem ein Jurek Becker, ein Manfred Krug
und eine Monika Maron, ja vermutlich auch ein Gregor Gysi und ein
Thomas Flierl Sehnsucht hatten, also jene Teile der Jeunesse Dorée aus
gutem Hause, die es auch in Ost-Berlin gab. Und nicht einmal die
politischen Zentralfiguren der Stadt - immerhin Willy Brandt, Hans
Jochen Vogel, Heinrich Albertz, Richard
v. Weizsäcker, Egon Bahr - waren auch nur ein klitzekleiner Einwand
dagegen, dass sich auch politisch die interessantesten Köpfe für dieses
West-Berlin verantwortlich fühlten.
II.
Harter Schnitt - Ende der sentimental Journey. Dieses alte West-Berlin
gibt es nicht mehr. Es ist aber nicht vom Krieg zerstört, nicht von der
Globalisierung, nicht von einem diabolischen Masterplan. Es gibt eine
eigenartige Krankheit in dieser Stadt, die in einer katastrophalen
Schwächung des eigenen Selbstbewusstseins und der fehlenden
Ahnung, was sich eigentlich zu verteidigen lohnt, gesucht werden muss.
Hier kurz die Fakten: Das Schillertheater, einst Wirkungsstätte großer
Intendanten, ist aufgegeben, die Deutsche Oper, einmal von
selbstbewussten Bürgern finanziert und in der Nachkriegsphase wieder
aufgebaut, hat nach der legendären Ära Götz Friedrichs einen
katastrophalen Absturz erlebt und ist heute mit einer unsichtbaren
Intendanz und einem ebensolchen Generalmusikdirektor beglückt. Die
Schaubühne Peter Steins, einst geradezu ein Mythos der gesamten
europäischen Theatertradition, kommt aus den kindlichen Rosenkriegen
nicht heraus, spielt keine Rolle in der Stadt. Die Freie Volksbühne
Piscators steht elf Monate im Jahr leer. Eine Bank, die sich Deutsche
Bank nennt, will die letzten beiden einmal von Max Reinhardt geplanten
Bühnen, die den Kurfürstendamm noch zum Boulevard machen,
herauswerfen oder gnadenhalber in das zweite Obergeschoß verbannen.
Die Kabarettszene hat Termine auf Durchreise. Die Akademie der Künste,
lange Zeit ein wunderbar diskursiver Ort im Hansaviertel, irrlichtert jetzt
in einem kalten Schaufenster am Pariser Platz, "für Modenschauen
bestens geeignet" (Friedrich Dieckmann). Die Straßen um den
Kurfürstendamm leeren sich. Die Paris-Bar geht in Insolvenz und im
Berlin-Pavillon, der einmal die Weltausstellung und später immerhin noch
die KPM-Tradition anbot, thront jetzt ein Burger King. Die alten Cafes des
Ku'damms, das Kranzler oder Möhring, sind verschwunden. Auf der
Rolltreppe des illustren KaDeWe's bieten sich heute russische Mädchen
an.
Ist das einfach der Lauf der Dinge? Ist das Globalisierung live? Ist es ein
Phänomen des Untergangs der alten europäischen Städte, das nur
ankündigt, was europaweit sowieso passieren wird, nämlich der Aufstieg
eines vitaleren Ostens zu Ungunsten eines zunehmend melancholisch
und destruktiv werdenden Westens, der zwar wohlhabend aber
letztendlich nicht mehr kreativ ist?
"Ach was", sagen fast gleichlautend Klaus Wagenbach, der Verleger und
Klaus Hoffmann, der Chansonnier, "das ist nur das ganz normale Berlin".
Es sind gerade die in Berlin Geborenen, die treuesten Kinder der Stadt,
die mit dem vergeblichen Kampf um das Schillertheater in nüchterner
Trauer die entscheidende Schlacht um den Selbsterhalt des alten
Kulturstandortes Westberlin als verloren notieren. Und tatsächlich will es
manchem so scheinen, als ob damals diese eigenartige Berliner
Krankheit angefangen hätte, die nichts mehr wagt und alles über sich
ergehen lässt.
III.
Und die Stadtpolitik? Sie hat kein Konzept. Sie verweist darauf, dass doch
nach allerlei Leerstand ein paar Geschäfte wieder an den
Kurfürstendamm zurückkehren. Sie lässt nicht einmal einen Grundalarm
spüren, der dem Ausmaß des kulturellen Verlustes auch nur annähernd
gewachsen wäre. Der aus Ostberlin stammende Kultursenator zeigt über
das Westberliner Desaster keine Trauer, hat aber viele Amtsstunden und
Hunderttausende Euros dafür genutzt und nutzen lassen, den maroden
Palast der Republik als unverzichtbaren zentralen Ort Berliner Identitäten
zu verteidigen. Ansonsten verlieren die Insulaner im Senat ihre Ruhe
nicht und hoffen weiterhin unverfroren darauf, dass der Bund im
Zweifelsfalle noch die eine oder andere Million rüberschieben wird.
Der Bund hat sich engagiert, er zahlt inzwischen mehr für die Kultur in
Berlin als der berliner Finanzsenator. Der Bund engagiert sich, wie ein
Bund eben nur tun kann, nämlich zentralistisch und repräsentativ: Für die
Museumsinsel, für die Opernstiftung, für die Elite-Universität, für die
Gedenkstätten, für den Wiederaufbau des Zentrums und seiner eigenen
repräsentativen Gebäude. Das verstärkt den Zentralismus der Mitte und
hilft den Kiezen wenig.
Es ist Sache der Stadt, einen Masterplan für die gesamte Fläche der
Kulturlandschaft Berlin zu entwickeln. Kultur ist das letzte wirkliche
Wirtschaftsstandbein Berlins. Hotels, Restaurants, Geschäfte,
Gaststätten, gute Wohnungen siedeln sich um Kulturinstitutionen an.
Wenn sich diese alle auf demselben einzigen Quadratkilometer im
Zentrum von Berlin Mitte konzentrieren, stürzen alle anderen Viertel
grundsätzlich und unaufhaltsam ab. Wenn in Geschäftsstraßen sich nur
noch die Filialisten einmieten, verramschen sie. Es ist also nicht nur eine
Frage der kulturellen und der historischen, sondern der wirtschaftlichen
Vernunft, die gleichmäßige Entwicklung der ganzen Stadtfläche mit ihren
kulturellen Zentren zum zentralen Wahlkampfthema zu machen.
IV.
Die großen deutschen Firmen verhalten sich in der Regel zum Standort
ihrer Hauptstadt Berlin auf eine Weise, die man nur schofelig nennen
kann. Jeder Politiker weiß ein Lied davon zu singen, wie mühselig das
Antichambrieren bei den Konzernchefs selbst für kleine Beträge ist. Die
Deutsche Bank hat sich mit ihren 5 Millionen für die gut
globalisierungstauglichen Berliner Philharmoniker (wohlgemerkt: eine
Million pro Jahr, auf fünf Jahre begrenzt!) von weiterem Großengagement
im Wesentlichen freigekauft. Sie unterstützt zwar eine Messe für
zeitgenössische Kunst in London, aber nicht das ArtForum in Berlin. Ihr
Immobilienfonds will dem Ku-Damm eine weitere Shopping-Meile
hinzufügen, statt sich mit dem Einsatz für Komödie und Theater am
Kurfürstendamm zeitlich und ewig Verdienste um die Stadtlandschaft zu
erwerben.
Und die Bürger, jene so schmerzlich vermissten Citoyens, ohne die eine
Stadt nicht leben kann? Es ist ja nicht wahr, dass es solche in Berlin nicht
gäbe. Zwar ist Berlin, verglichen mit anderen Städten, weniger
wohlhabend. Aber Citoyen zu sein war immer zunächst eine Frage
dessen, was man an Bildung, an Weltläufigkeit, an kultureller Neugier, an
intellektuellen Netzwerken zur Verfügung hatte. Ein Citoyen ist man nicht
per Geburt und nicht wegen eines Bankkontos, man ist es, weil man es
sein will. Noch einmal Klaus Wagenbach: "In einer Stadt, für die man sich
verantwortlich fühlt, muss man als Kind ins Theater gegangen sein."
Nimmt man das mit der Kindheit nicht so ganz genau, sondern zählt die
Studentenzeit mit dazu, gäbe es eine ganze Menge an Menschen, die
einem dazu einfielen. Sie müssen nur endlich sichtbar werden.
V.
Für den Verlauf der nächsten Monate ist entscheidend, ob dieser ganze
Niedergang West-Berlins politisches Thema wird, oder ob man ihn
stoisch auf das Konto des ewigen Auf und Ab sozialen Schicksals
verbucht.
Es ist Wahlkampf in Berlin und die Notwendigkeiten, an denen die
Parteien zu messen sein werden, liegen auf der Hand: Ein Masterplan für
den Erhalt der verschiedenen kulturellen Zentren für die gesamte
Stadtfläche in Ost und West hat Priorität. Mit den Immobilienbesitzern
muss darüber gesprochen werden, dass sie selbst langfristig ihren
eigenen Ruin betreiben, wenn sie durch weitere Ramsch- und Filialisten-
Verpachtungen den Wert ihrer eigenen Grundstücke vermindern. Der
Bahnhof Zoo als letzte zentrale Anlaufstelle West-Berlins ist zu
verteidigen. Die beiden Theater am Kurfürstendamm – immerhin die
Sprechbühnen mit dem größten Platzangebot in der Stadt und dazu von
dem berühmten Oskar Kaufmann gebaut -hätten längst unter
Denkmalschutz gestellt werden müssen. Das zu tun ist auch heute noch
möglich. Die Berliner Theater insgesamt sollten lernen, dass sie nicht
durch drei Insider-Kritiken in den bundesweiten Medien und deren
Einfluss auf die Politik gesichert werden, sondern durch Verankerung in
ihrem Kiez und ihrem Publikum. Da ist viel zu tun. Die Stadtbürger, die auf
Dauer wenig Lust haben werden, sich in dem selben Quadratkilometer mit
jedem anderen Kulturinteressierten und jedem anderen Touristen um die
raren Plätze zu drängeln, müssen begreifen, daß Einzelhandelsgeschäfte,
Theater, kleine Museen, Cafes in dem Quartier, nicht leben können, wenn
Geiz weiterhin geil und Schnäppchenmentalität angesagt ist. Die junge
internationale Szene, die dem grandiosen Nachwendemythos Berlins
gefolgt ist und weltweit dafür sorgt, daß Berlin zur Zeit – noch! – als
hippeste Stadt der Welt gilt, wird weiterhin neue Randviertel vor allem im
Osten suchen und entdecken, weil es da aufregend zu leben und billig zu
wohnen und zu arbeiten ist. Das ist auch gut so. Aber ihre Käufer werden
© 2015 Dr. Antje
Vollmer